Christine Clement berichtet aus St. Camille (Québec / Kanada)
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Kanada: unendliche Wälder, Seen, Berge, Felder und Kunststoffhäuser.

Dies sind die Abenteuer der Schülerin Christine Clement, die 11 Monate viele tausend Kilometer vom Schwabenländle entfernt war, um ein neues Land zu entdecken, fremde Menschen kennenzulernen und eine sich bis dahin noch relativ unbekannte Sprache anzueignen...

Mein Abenteuer begann am 12. August 2002 um 7.45 Uhr am Stuttgarter Flughafen. Von dort ging es nach Frankfurt und dann mit den anderen Austauschschülern weiter nach Montréal in Québec/Kanada. Zuerst trafen wir uns alle in einem zweiwöchigen "Camp francais", wo man versuchte, uns in einem Crashkurs auf die Kultur "québécoise" vorzubereiten und uns innerhalb von wenigen Tagen die Geschichte Kanadas zu erklären. Danach ging es weiter in unsere "famille d'accueil", wo wir die restlichen 315 Tage verbringen durften.

Meine Gastfamilie wohnte in einem, für die dortigen Verhältnisse, mittelgroßen Dorf namens St-Camille. Mit mir hatte dieses Dorf dann 484 Einwohner. Jedoch unterscheiden sich die dortigen Dörfer von dem, was wir als Dorf bezeichnen würden. St-Camille zum Beispiel besteht aus genau zwei Straßen, die eine Kreuzung bilden. Dazu gibt es eine große Kirche, eine "Cantine" (entspricht am ehesten der deutschen Würstchenbude), eine Grundschule, eine Tankstelle und den "Dépanneur" (ein Lebensmittelgschäft) meiner Gasteltern. Unter den insgesamt 39 Häusern gibt es nur wenige, die noch traditionell ganz aus Holz oder Stein sind, da die moderneren Häuser eher dem amerikanischen Stil mit Plastikverkleidungen im Holzstil und Styropormauern im Steinstil entsprechen. Nebenbei, genauso wie die "Architektur", ist auch die Esskultur der Kanadier von den Staaten sehr geprägt worden. (Vive the american way of life!).

Nach einer sehr kurzen Eingewöhnungsphase (genau einen Tag), begann für mich die eigentliche Herausforderung: mein erster Schultag in der "Secondaire" im 32 Kilometer entfernten Ort Asbestos (der ungewöhnliche Name rührt von der dort stehenden Asbestmine). Meine Fächer hatte ich schon in Deutschland aus mit der Hilfe meiner "Responsable" gewählt und meine Schulbücher sowie meinen Spind hatte ich mit meiner Gastmutter schon am Vortag "abgeholt".

Mir wurden richtig die Knie weich, als ich in den gelben Schulbus einstieg. Freunden nach zu urteilen war ich kreidebleich und das "Salut" des Busfahrers erwiderte ich mit einem erschreckten Kopfnicken.
In der Schule angekommen, wo es übrigens Fenster nur im Treppenhaus gibt und kein Einziges in den Klassenzimmern, trafen sich alle Schüler auf dem "place publique", einer Art Versammlungsplatz inmitten des Schulgebäudes. Es waren rund 140 Schüler anwesend, die alle in der Abschlussklasse, der "Secondaire 5" waren. Nach einer Ansprache der Direktorin, von der ich mit Mühe und Not ein Fünftel verstand, wurden die Stundenpläne ausgeteilt. Die Stundenpläne sind dort zyklisch, das heisst sie sind nicht von Montag bis Freitag, sondern von Tag 1 bis Tag 9, die dann auf den jeweiligen Wochentag fallen. Ist man bei Tag 9 angelangt, fängt man wieder von vorne an. Jeden Tag hat man 4 Schulstunden à 75 min: zwei vormittags und zwei nachmittags. Die Fächer unterscheiden sich nur bedingt von den Unsrigen: Mathematik I, II und III (für starke bis schwache Schüler), Französisch, Englisch, Sport, Informatik, kanadische Geschichte, "Formation Personnelle et Sociale" (eine Mischung aus Religion und Ethik) sowie Wirtschaft. Als Wahlfach konnte man dann noch Fächer wie zeitgenössische Geschichte, Mechanik, Theater, Architektur, die ganzen Naturwissenschaften und Kunst wählen.

Da die Schüler dort im Stoff ungefähr so weit waren wie wir, war es auch nicht so schwer für mich in den einzelnen Fächern mitzukommen. Nach einiger Zeit verirrte ich mich dann auch nicht mehr im Schulhaus, das an die 7 verschiedenen Treppenaufgänge hatte, sondern erschien pünktlich zum Unterricht.
Einige Erfolge sammelte ich in "Économie intérnationale", wo ich an einem Wettbewerb teilnahm und gewann und in zeitgenössischer Geschichte, wo ich einen "méritas" als Schulbeste erhielt.

Ich muss jedoch dazu sagen, wenn man das deutsche Schulsystem mit seinen Anforderungen gewöhnt ist, hat man (jedenfalls in Québec) leichtes Spiel. Die Multiple-Choice Tests sind zuerst gewöhnungsbedürftig, aber sie erfordern nicht das gleiche Lernpensum wie unsere Klassenarbeiten oder Klausuren und mündliche Noten sind dort sogar ganz unbekannt, wenn man von den jeweils zwei mündlichen Prüfungen in Englisch und Französisch absieht. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass die Allgemeinbildung der
Schüler oft nicht über den nordamerikanischen Kontinent hinausreicht (wurde ich doch mehrmals gefragt, wie lange man mit dem Auto von Kanada nach Deutschland braucht).

Die meisten Probleme, die ich in der Schule hatte, bereitete mir nur das Verstehen der Sprache und auch das Sprechen. Die Québécois sprechen als Nachfahren französischer Kolonisten zum Teil das Französisch, das die Franzosen vor 400 Jahren sprachen. Und durch das enge Zusammenleben mit englischen Kanadiern wurden viele Anglizismen in das dortige Französisch übernommen. Trotz dieses Tür an Tür-Lebens der Franzosen mit den Engländern, halten die Franzosen nicht viel von ihren englischen Nachbarn in den anderen Provinzen Kanadas und umgekehrt. Wenn die Québécois es könnten, würde die Provinz Québéc aus der kanadischen Föderation austreten. Wer also denkt: "Super, die sprechen ja eh alle Englisch da", wird in seinem Urlaub nicht einmal eine Pizza bestellen können, wenn er nicht in den großen Städten wie Montréal oder Québec bleiben will.

Schon nach einigen Wochen dauerfranzösisch merkte ich, dass ich nicht mehr wie am Anfang zu allem, was mir erzählt wurde "euh...oui, oui" sagte, sondern anfing, alles zu verstehen, problemlos Bücher lesen konnte (Das Parfüm von Patrick Süskind sollte meine erste Herausforderung im Französischunterricht sein) und sogar die mündlichen Prüfungen ganz passabel meisterte.

So steinig der Anfang auch war, um so leichter war der Rest des Jahres. Schnell hatte ich Freunde gefunden und lernte die nähere Umgebung, sowie einige Eigenheiten des dortigen französischen Dialektes (Flüche etc.) kennen.

Mit meiner Gastfamilie verstand ich mich auch immer besser. Bald waren sie mein zweites Zuhause und es wurde für mich selbstverständlich, meinen 6-jährigen Gastbruder morgens zur Grundschule zu bringen, wo mein Schulbus abfuhr, oder mit meinem 3-jährigen Gastbruder Spiderman zu spielen.
Die Höhepunkte des Jahres waren eindeutig Halloween mit der nächtlichen Süssigkeitentour durch das Dorf (ich hatte noch am Jahresende eine ganze Tüte voll), Weihnachten mit der Mitternachtsmesse und dem großen Familienabendessen, die Geburt meiner kleinen Gastschwester am 27. Dezember, diverse Ausflüge mit der Schule (unter anderem nach Québéc oder zu einem Fernsehsender), die Aufführung eines Theaterstückes mit meinem Theaterkurs und natürlich der Abschlussball. Am Tag nach den letzten Abschlussexamen war es dann endlich soweit: die stolzen Eltern begleiteten ihre herausgeputzten Töchter (die teilweise in ihren quietschrosafarbenen Tüllkleidern Absolventinnen des Barbie-Colleges ähnelten) und Jungs (von denen die meisten dann doch noch einen Smoking ausgegraben oder entmottet hatten) in den Festsaal. Das Programm dieser Abschlussbälle ähnelt ein bisschen unseren Abibällen: der selbstgedrehte Film wird gezeigt, die verschiedenen Klassen bedanken sich bei ihren Lehrern und dann, nach der Krönung der Ballkönigin und des Ballkönigs, wird das Jahrbuch mit ein paar Worten der Direktorin überreicht. Das Diplom wird nicht wie in den U.S.A. bei einer speziellen Feier (Graduation) überreicht, sondern einige Wochen später zugeschickt.

Als dann schließlich am 7. Juli 2003 der Tag des großen Abschiedes gekommen war, war ich fast am Verzweifeln. Einmal, weil ich mit Mühe und Not meine beiden Koffer zubekommen hatte, jeder das erlaubte Maximalgewicht nur um einige hundert Gramm knapp unterschritt, ich verschiedene Pakete nach Hause schicken musste, um alle meine Sachen nach Deutschland zu bringen und dann natürlich, weil ich meine Gastfamilie, meine Freunde und ein wunderschönes Land, das mein Zuhause geworden war, verlassen musste (die Atemlosigkeit dieses Satzes dient zur Unterstreichung meines damaligen Stresses). Die letzten 20 Minuten am Flughafen waren die schlimmsten 1200 Sekunden meines ganzen Jahres. Vorsorglich hatte mir die Mutter meiner Gastmutter (meine Gastoma sozusagen) eine Rolle Küchenpapier mitgegeben. Vor lauter Umarmen und Trösten hörte ich den letzten Passagieraufruf nicht und hätte also noch beinahe meinen Flug verpasst. Ich nahm nun den gleichen Weg wie vor 329 Tagen zurück ins Schwabenländle, wo ein großer Teller Linsen, Spätzle und Saiten auf mich wartete.